>Tocotronic<
Die netten Jungs von nebenan
Die drei, die sich nach einem Game-Boy-Vorläufer benannt haben und bereits mit ihrem ersten Album „Digital ist besser" (1994) die Herzen aller Musikrezensenten und Indiependent-Hörer gewannen, haben sich in den drei Jahren seit ihrer Gründung von schrammelnden Lümmeln zu spritzigen, jugendlichen Musikern entwickelt. Erfrischend einfach ihre Texte, doch immer präzise beobachtet, rockig die Gitarren, bisweilen zu einem Wall-of-Sound ausufernd, sind die Tocos zu einem Stück deutscher Popkultur geworden, die die Lücke zwischen "Blumfeld" und den "Sternen" füllt.
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Zwischen ihrem letzten, sehr erfolgreichen Album „Wir kommen, um uns zu beschweren" und dem aktuellen „Es ist egal, aber" liegt nicht nur eine für die Tocos unüblich lange Produktionszeit von einem Jahr, sondern auch musikalisch eine Zeit des Wandels. Die beiden Song-Gattungen „schnell und punkig" und „langsam und melancholisch" haben sie beibehalten - ebenso wird man Elektro-Einflüsse vergeblich bei ihnen suchen. Tocotronic haben innerhalb des eigenen Musikkosmos die Dramaturgie der Stücke geändert. Beide Songarten finden sich jetzt oftmals vereint in einem Lied, fein zusammengefügt durch verschiedene Tempi, und, das ist neu, untermalt von Streichern. Dirks Gesang wirkt reifer und fester - ich würde wetten, daß bei den nächsten Toco-Konzerten so einigen weiblichen Fans bei seiner samt-rauhen Stimme die Cordhose naß wird...
Für die Aufnahmen sind Tocotronic diesmal in die französische Provinz gereist, um der Routine zu entgehen, die sich nach drei schnell aufeinander produzierten Alben (Marke: „Eine Platte sollte nicht so einen Ereignischarakter haben") einzustellen drohte.
Dirk: Wir haben schon viel mehr Zeit gehabt, als beim letzten Album. Als wir damals so zwölf Stücke zusammenhatten, und auch die so halb wackelig, haben wir gesagt ‘So jetzt gehen wir ins Studio und nehmen auf, was soll’s’. Und beim aktuellen Album haben wir ziemlich lange herumgefeilt, ziemlich oft geprobt. Wir haben ein Dreivierteljahr zweimal in der Woche geprobt.
Jan: Das war eine bewußte Entscheidung, daß wir uns mehr Zeit nehmen. Vorher war’s ja auch eine bewußte Entscheidung, sich nicht so viel Zeit zu nehmen. Daß wir Streicher einbauen, die Idee stand schon beim letzten Album im Raum. Jetzt wollten wir das auf jeden Fall machen. Das war dann auch der Grund, Hans als Produzenten zu nehmen, weil der diese Arrangements schreiben konnte.
„Es ist egal, aber" wurde von Peter Deimel und Hans Platzgumer produziert. Wie hat sich die Zusammenarbeit mit Hans gestaltet? War das eine längerfristige Sache?
Dirk: Er war bereits bei den Proben ein paarmal dabei und wir haben ja auch sonst mit ihm zu tun und kennen ihn, dann haben wir auch oft über die Musik geredet. Ja, es war schon längerfristig.
Arne: Er hat die Lieder im Proberaum mitgeschnitten und hat dann die Arrangements, die er sich vorgestellt hat, bei sich zuhause dazugespielt und uns das alles wieder vorgespielt.
Dirk: Er kam dann an in einem Rokoko-Kostüm und einer Geige, ganz Mozart...(lacht)
Trotzdem der Aufbau der Songs stimmiger und reifer wirkt, haben Tocotronic nicht ihren Biß verloren. Gehässige Protestsongs (Sie wollen uns erzählen) reihen sich neben melancholische Beobachtungen von zunehmender Entfremdung zwischen Menschen (Meine Schwester, Liebes Tagebuch). Im Gespräch wirken die drei jedoch weniger nachdenklich, als vielmehr verdammt reizend, ja geradezu, bemühen wir ruhig diesen Begriff, „höflich". Sie lachen viel, quaken schonmal durcheinander und Dirk entschuldigt sich, immer wenn er seine Nase putzen muß.
„Es ist egal, aber" lebt von den beiden Extremen „schnell und punkig" und „ruhig-melancholisch", die durch die zusätzlichen Streicherarragements noch weiter betont werden. Die fein gezupft oder gespielten Instrumente wirken jedoch nicht aufgesetzt, sondern fügen sich in die Dramaturgie der Songs leise ein.
Kleine Pop-Perlen wie „Sie wollen uns erzählen" klickern gegen rauhe Rotzfahnen wie „Gehen die Leute", in dem sich der Bogen von Punk zu Geigenmelancholie spannt, um in einem gehässigen „Hah ha ha" und fiesen Fuzzgitarren zu enden. „Ein Abend im Rotary Club" wiederum ist eine präzise Gesellschaftsbeobachtung, ein kleiner Pop aus Gitarren, ganz reizend.
Was ist eigentlich der Rotary-Club?
Jan: Wundert mich, daß das niemandem ein Begriff ist. Das ist ein Verein von wohlsituierten Menschen aus allen Berufskreisen, der sich dem Guten verschrieben hat, also eine sehr zweifelhafte Sache.
Dirk: Das ist so absurd, wenn man das so hört und deshalb dachten wir, das paßt gut, um eine Geschichte zu schreiben, wie man da reinkommt. Man weiß ja gar nicht, was die eigentlich machen. Das ist fast schon eine mafiös-verästelte Vereinigung. Sehr dubios. Das paßt gut in unsere Verschwörungstheorien, daß da irgendwo Menschen sitzen, die da im Hintergrund ihre Fäden ziehen.
Hat Euch der schnelle Erfolg eigentlich überrascht?
Arne: Ja, schon. Als wir die erste Platte „Digital ist besser" rausbrachten und es dann - Huiiii - aufwärts ging, das haben wir überhaupt nicht erwartet.
Jan: Die supervielen Pressereaktionen nach dem ersten Album waren eigentlich die größte Überraschung. Aber nicht nur das: gleichzeitig wurde sie von Hörern und Fans sehr begeistert aufgenommen.
Dirk: Es war schon komisch, denn wir dachten, wenn man bei L’Age Dor ein Album herausbringt, dann verkauft man so 2000-3000 Stück. Und dann ging’s doch ziemlich los, das hat uns schon ziemlich verunsichert.
Wie könnt Ihr Euch den rasanten Erfolg erklären?
Dirk: Der Zeitpunkt der Veröffentlichung war relativ glücklich gewählt. Da gab’s schon viele Bands, die das vorbereitet hatten. Ein halbes Jahr zuvor kam die letzte Blumfeld-Platte heraus, die auch ein großer Erfolg war. Und die „Digital..." hat eine ganz ähnliche Sichtweise, nur eben eine jüngere.
Jan: Ich glaube, daß es diese Kombination, die wir machen, so noch nicht gab. Diese Art von deutschen Texten und die Musik eher dem amerikanischen College-Rock verpflichtet.
Mit dem zunehmenden Erfolg hat sich für die drei der Stellenwert ihrer Musik verändert: lief das Musikmachen zuerst noch neben dem Studium, so ist es jetzt zu einem Fulltime-Job geworden. Im Gegensatz zu anderen Bands steuern die Tocos alles selbst. Entscheidungen der Plattenfirma werden immer in Absprache mit der Band getroffen, Jan macht die Grafik und die Fotos für die Plattencover, Arne die Anzeigen. Aufkleber, T-Shirts und was zum fröhlichen Merchandising so dazugehört, machen die Jungs ebenfalls im Alleingang.
Jan
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