| Cyberpunks im Cyberspace
Cyberpunk - das Wort ist plötzlich in aller Munde, aber was
darüber ist in unseren Köpfen? Was bedeutet diese
Kombination aus "Kybernetik" (Regelungs- und
Steuervorgänge z.B. in Computern) und "Punk"?
Ursprünglich kommt der Begriff
aus der Science-Fiction-Literatur und beschrieb die "Maschinen-
Prosa" William Gibsons, der in seinen Büchern eine halb
vertraute, halb fremde Zukunftswelt mit sehr viel Technik und einem
krassen Gesellschaftsbild entwarf, das wie die Weiterführung
unserer jetzigen Situation in das nächste Jahrtausend aussieht.
Dabei ließ er sich nicht nur von anderen Werken der SF
beeinflussen, sondern auch von der Musik von Kraftwerk, Laurie
Anderson, Velvet Underground und anderen. Die Literatur-Bewegung
Cyberpunk kam zu Beginn der 80er auf und fand reges Interesse bei
Lesern und Autoren, wobei es anscheinend weder den Autoren (die das
nicht versuchten) noch den Kritikern (die es nicht schafften) gelang,
dem Cyberpunk einen klaren Hintergrund, eine Definition, eine
Ausrichtung und eine Zielsetzung zu geben.
|
Das erste als Cyberpunk bezeichnete Buch ist "Neuromancer" von William Gibson.
Schon 1986 begannen sich die führenden Autoren vom
Cyberpunk zu distanzieren, da ihrer Ansicht nach der große Erfolg
dieser "Revolution" in der SF, der sie über die
Grenzen des Genres hinaus bekannt machte, eine Bewegung wie diese
durch zu große Kommerzialisierung töten mußte.
Diese kurze Zeitspanne entspricht aber generell dem
Lebensgefühl, das in den Romanen beschrieben wird: alles geht
schnell, fließt vorbei und ist fast schon zu Ende, ehe es begonnen
hat.
Die Cyberpunk-Romane spielen in einer
nahen Zukunft, die von multinationalen Konzernen beherrscht wird, die
die politische Macht längst übernommen haben. Die
wichtigsten Güter dieser Welt sind Software, Hormone zur
Lebensverlängerung und Bioimplantate und ihr oftmals illegaler
Handel spielt in den Romanen häufig eine zentrale Rolle. Die
"Helden" dieser Hardcore-SF sind keine unrealistischen
muskelbepackten Superwesen mehr, wie sie in der SF der 50er Jahre die
Welt und das Universum retteten, sondern schlagen sich im Gegenteil
mit den gleichen Ängsten, Hoffnungen und Probleme herum wie
wir. Auch die Städte und Länder, in denen sie sich bewegen,
heißen nicht "Hyperopolis" und "Magnatata", sondern sie sind schon heute in jedem Atlas
zu finden, nur haben sie sich sehr verändert und gerade die
Städte Amerikas sind zu riesigen Ballungsräumen
zusammengewachsen, was der scheinbaren Vertrautheit einen
kräftigen Schatten von Befremdlichkeit beifügt.
| Die Atmosphäre der Romane ist schnell, hart und collagenhaft
wie ein Videoclip. Ebensowenig wie die Protagonisten kommt auch der
Leser jemals zu Ruhe, sondern verliert sich in hektischer
Betriebsamkeit, während das eigentliche Gesellschaftssystem um
ihn herum stagniert oder verfällt. Auf der Suche nach der neusten
Droge, die den letzten noch nicht gekosteten Rausch bringen soll, auf
der nach noch besserer Software für Geld oder Matrixreisen sind
die Leute ständig unterwegs, von Asien nach Europa, in den den
Orbit und zurück. Zeit für Ruhe und Besinnung bleibt bei
diesem Lebensgefühl nicht.
|
Eine besondere Rolle spielt im Cyberpunk
die Haßliebe zur Technik. So furchtbar sie auf der einen Seite
durch Waffen, Implantate, Drogen, Computerkriminalität,
Kontroll- und Einflußmöglichkeiten der Konzerne auch sein
mag, so wunderbar ist sie auf der anderen, denn sie ermöglicht
die Heilung von Krankheiten und durch Implantate von Verletzungen,
macht Wissen einfach zugänglich und die Kommunikation leicht
und ermöglicht den Zugang zur schönen/ fremden/
gefährlichen Welt des Cyberspace.
|
Die Matrix (lat. Mutterboden) dieser Welt im Computer ist heute
schon im Aufbau. Sie stellt ein imaginäres Netz dar, das alle
Länder und Städte miteinander verbindet, indem deren
Computersysteme verknüpft werden. Das Globale Dorf, in dem
Tokio meinem Computer fast so nahe ist wie die Nachbarstadt, ist im
Cyberpunk längst Wirklichkeit. Mit Hilfe von
Nervenanschlüssen ist es in den Romanen möglich, mit den
Gedanken direkt in die Matrix zu gehen und dort als eine Art
Computersimulation durch eine imaginäre Welt zu gehen, die sich
als eine charakteristische, von Symbolen bestimmte Landschaft
darstellt. Für den, der sich in der Matrix befindet, ist diese Welt
genauso real wie unsere. Sollten die ersten schwachen Anfänge,
die es jetzt schon dazu gibt, sich irgendwann zu einem wirklich
"begehbaren" Cyberspace entwickeln, werden wir somit
eine neue Definition von Realität finden müssen, indem wir
unseren physischen und unseren psychischen Aufenthaltsort trennen.
Da es aber ja nicht nur einen
Cyberspace geben muß, in dem Programme und Daten in Form von
"Gebäuden" und "Körpern" zu
finden sind, sondern beliebig viele, in denen alles, was der Mensch
erleben, sehen und ausprobieren möchte dargestellt werden
kann, würde diese Entwicklung vermutlich noch viel
komplizierter. Alle diese Welten wären so schön oder
schrecklich, wie der Programmierer es wünscht - wer die
Software hat, kann Himmel oder Hölle neu schaffen und den
Benutzern die Möglichkeit geben, sich darin zu verlieren. Aber
das ist - leider?Zum Glück?- bislang noch Zukunftsmusik, die nur
aus den Cyberpunkromanen klingt. Ebensowenig ist es und
möglich, unsere gesamten Daten auf eine CD zu pressen und
somit auch nach unserem Tod als eine ROM (Read-Only-Memory)-
Konstruktion jederzeit ab- und aufrufbar zu bleiben (ja, auch das
passiert im Cyberpunk) oder durch ein Simstim genanntes Gerät
mit unserem Geist Gast im Körper eines anderen Menschen zu
werden, seine Empfindungen und Sinneseindrücke zu teilen und
ihm somit weit näher zu sein, als Sprache und Berührung
uns das heute ermöglichen.
|
Aber wenn das alles so phantastisch ist
und so fern, warum interessieren sich dann so viele für
Cyberpunk? Weil wir auf dem besten Weg dorthin sind. In den Romanen
werden grundlegende Bereiche wie Zeit, Entfernung, Realität und
Identität berührt und in Frage gestellt, und schon bei uns
beginnen die ersten Grenzen zu verschwimmen. Ob wir nun
"automatisch handeln" oder unser Computer einen
"Virus" hat, ob Wissenschaftler sagen, daß sie noch
zu erleben hoffen, wie der Datenanzug in die Tonne getreten wird, um
einer Nervenschnittstelle im Gehirn Platz zu machen oder ob wir einen
Blick auf die bunte Vielfalt synthetischer Drogen,
Hormonbehandlungen, Gentechnik und Computerkriminalität
(die längst mehr bringt als ein Banküberfall) werfen - so
fern sind wir der "Zukunftswelt" Cyberpunk nicht. Es ist
eine Literatur der Auflösung bestehender Grenzen, mit allen
Gefahren und Möglichkeiten, die hinter ihnen liegen, und was uns
nun noch unverrückbar und sicher erscheint, wird vielleicht in
Zukunft durch Technik und Wissenschaft relativiert. Aber auch wenn
Körper, Realtität und Gedanken von alledem nicht
unberührt bleiben, so bleiben doch die alten Motivationen wie
Liebe, Angst, Neugier, Haß und Sehnsucht zumindest bestehen, die
alles zum Guten oder Schlechten wenden können und mit denen
wir uns selbst dem Neuen zu stellen haben.
Britta van den Boom
| | | | | |