Mit den Worten: "Nein, nein, das ist nicht unser Gästestuhl!", werde ich von meiner ersten Platzwahl vertrieben. Zwischen Nähmaschinen, Bügeleisen und bunt gemischten Stoffen versinke ich nun in einem 70'er Jahre Stahlsessel im Arbeitszimmer von Odradek. Mir gegenüber sitzen Andrea und Heike auf zwei Bürostühlen, welche sie auf eine höhere Position bringen, die durch das nette Gespräch jedoch schnell ausgeglichen wird.
Am 5. März 1994 wurde aus dem kleinen Hinterhaus in der Königsworther Str. 26 Odradek. Heike Dannheim und Andrea Klingeberg machen hier Mode indem sie aus "Second-Hand-Sachen was Neues machen".
Heike: "Aber auch was, das außen vorsteht, eher für Individualisten."
Andrea: "Mode kann man das nicht nennen."
Heike: "Es ist ein bißchen außer der Zeit."
Andrea: "Außermodisch, wie wir zu sagen pflegen. Es ist nichts für die Masse. Einzelstücke. Wenn man aus alten Sachen Neues macht, ist das vom Zufall abhängig, denn man kann nicht vorherbestimmen, was man an alten Sachen findet. Du kannst nicht sagen, du machst einen Haufen Sachen in einer Richtung, wenn du das Rohmaterial nicht hast."
Aber Heike und Andrea wäre es auch zuwider, aus einem alten Lagerbestand von gleichen Teilen 100 Mal das Gleiche zu machen. Das hatten sie auch nicht vor als sie sich vor 6 Jahren bei einem Praktikum kennenlernten. Wenig später war schon der Name gefunden.
Andrea: "In der Geschichte 'Die Sorge des Hausvaters' von Franz Kafka kommt dieses Wesen Odradek vor, das eine kleine Zwirnspule mit Faden ist." Daher auch das Logo. "Später hat sich herausgestellt, daß der Wortstamm Odra... aus dem Tschechischem kommt und zerrissen, zerfleddert heißt, was zu Second-Hand ganz gut paßt. Gleichzeitig heißt es auch 'über den Ladentisch ziehen'..." Ich werde zweifach breit angegrinst. " Der Name sprach uns im Gegensatz zu 'Heikes und Andreas Nähstübchen' an. Wir fanden ihn einfach schön."
Es sollte auch kein Name sein, den man sich gut merken kann und so prägt man sich 'den Laden mit dem unaussprechlichen Namen' ein.
Seit es Odradek-Schilder an der angeblich denkmalgeschützten Außenfassade des Vorhauses gibt, "kommen auch viele Leute spontan rein, weil sie draußen lesen: Second Hand". Die Werbefotos aus Kaninchenzüchterzeitschriften und biologischen Werken tun ihr übriges. Sie ziehen sowohl besonders die Bands als auch das Publikum der 7ties-Parties an.
Heike: "Für Bad Taste kommt auch der ein oder andere, aber wir wollen nicht nur so gesehen werden, es macht jedoch Spaß, so schräge Sachen im Angebot zu haben."
Andrea: "Aber nicht überwiegend, eher good Taste Sachen."
Heike: "Wir hatten auch schon mal einen echten 20er-Jahre Frack oder eine weiße Plastikjacke mit Fellbesatz. Da waren sogar noch irgendwelche Aufputschmittel in einem kleinen Röhrchen drin. Jetzt hat sie einer von Roy-Brenningmeiers-Hittransporter. Es gibt auch manche Sachen, die stellen sich im Nachhinein als Techno-Sachen heraus, aber nicht gezielt. Es ist völlig unterschiedlich, was für Stammkunden wir haben."
Sie wollen sich und ihre Sachen keiner Szene zuordnen. Sie sind auch selbst musikalisch sehr flexibel, so hört Heike "alles von Klassik bis Heavy Metall", auch gern mal Prodigy. Andrea mag's lieber zum Mitsingen. Techno hört sie nur, wenn es ihre 15 jährige Tochter dudelt. Andrea ist, ich konnte es auch kaum glauben, schon 37 und hat auch noch einen 17 jährigen Sohn. Da sie "reich verheiratet" ist, kann sie es sich leisten, den ganzen Tag in dem für zwei Personen leider noch unrentablen Laden zu sitzen. Heike (28, wer's wissen mag) sagt zwar mit verträumtem Blick: "Ich möchte auch reich heiraten, bis dahin arbeitet sie aber noch als Datentypistin und kennt sich somit erstaunlich gut mit dem Internet aus. Sie ist auch noch als Studentin für Modedesign eingetragen, doch sie möchte längerfristig lieber einen Laden wie Odradek führen: "Vielleicht im größeren Stil."
Fragt sich nur, ob ein größerer Laden so nett dekoriert werden kann. Ins Auge stechen natürlich gleich die Krankenhaussperrmüll-Möbel ("pssst", macht Andrea) und die im Putz eingelassene Schaufensterpuppenbrust. Wenn man genauer hinschaut, entdeckt man auch den kleineren Schnickschnack und unscheinbare Bildchen überall an den Wänden. Bis auf eine Betonarbeit von Heikes Vater ("Er war der Meinung, eine Kelle Zement reicht auf den großen Hutständerblock, so daß wir ein Mal im Monat eine große Schaufel Sand wegfegen müssen"), haben sie alles selbstgemacht.
Zum zweijährigen Jubiläum wollen sie unverständlicherweise alles umreißen und die Räume neu gestalten. Zu diesem Anlaß wird es sicher auch eine ihrer Aktionen geben, aber die und das dazugehörige Thema wird wie immer spontan entschieden.
Das letzte Thema waren die Reptil Wochen, in denen auch mal ein Trend wie der Reptilienlook aufgegriffen wird "und wir versuchen, den ein bißchen anders umzusetzen". Davor gab es die Ed-Wood-Wochen, zu denen es Flauschiges im Angebot gab. Der Höhepunkt der Wochen war eine "Plan 9"-Party im Vorgarten mit Holiday-Schaukel.
Im nächsten Sommer soll es wieder eine theatralische Modenschau geben.
Heike: "Nicht nur eine Modenschau. Tage sondergleichen!"
Zur letzten Modenschau mit den Themen: Heimat, Karo, Puff und Peinlich, Haarig etc. hatten Andrea und Heike Wigald Boning als Moderator eingeladen. Er hat einen langen Brief zurückgeschrieben, indem er sich förmlich dafür entschuldigt, daß er zu der Zeit gerade im Urlaub war. Er schreibt aber weiter: "Er würde mal vorbeikommen und vielleicht einen flotten Bademantel oder ein paar Übergangsschuhe kaufen".
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